ich reise nicht gern. mir fehlt nichts so wenig wie: woanders zu
sein. fremde dinge sehen, in fremden sprachen fremden berichten von fremden
über ihr fremdes leben lauschen, die in elf von zehn fällen auf das
hinauslaufen, was man sowieso kennt - das liegt mir nicht. ich schätze weder koffer, noch hotels, noch klimawechsel, noch cafés, die ganz toll anders sind, noch krankheiten mit unersprießlichen symptomatiken. ich komme aus einem auf
der karte nicht verzeichneten ort im norden deutschlands, von kundigen
zurecht als "brutalstmögliche Idylle" gekennzeichnet. jetzt hat es mich, familiär, prekär, herzensschwer, verschlagen nach shanghai. frau und kind tun dinge, die sie ebensoanderswo tun könnten, zu hause zum beispiel, doch hier leider auch. ich bin escortservice, quasitourist und fest entschlossen zu nichts. ein blog klagt an.
Am ende hat mich argentinien sehr an die ddr erinnert.
Vielleicht weil die zeit mir etwas lang wurde und nichts passierte. Vielleicht
weil die zeit auch hier stehen geblieben zu sein scheint. Argentinien ist das
land der alten, der alten kellner, die würdevoll im halbschatten der
schankräume stehen, der alten billardspieler, mit hosenträger und gel im grauen
haar, der alten tänzer, die in alten häusern ältere damen zum tanz bitten. So
kams mir vor. Mag sein, ich bin irgendwo falsch abgebogen. Doch der eindruck
bleibt. Wie die ddr macht dieses land einen blassen eindruck, es zieht überall,
und wenn es etwas gibt, das einem sofort ins auge fällt bzw. bläst, dann ist es
der staub. Die städte sind grau und haben fassaden von gestern. Jede menge
fahnen, kreisrunde plätze, geometrisch konfuse denkmäler mit zacken. Die
straßen sind schlecht. Das essen kann man nicht essen. Mir ist ein rätsel, wie
die leute hier überleben. Die argentinische küche kennt keine gewürze außer
ketchup und mayo, keinen fisch außer lachs und forelle. Die existenz von gemüse
wird bestritten. Fleisch liegt in arschbackengroßen portionen vor. Pizzas sind
fondue, fondue ist quark. Woher der kaffee seine braune farbe hat, weiß
niemand. Sport spielt eine große rolle. Die mittagspausen sind lang. Es wird
viel geredet. Morgen ist auch noch ein tag.
Ist der vergleich einmal gezogen,
findet sich eine gemeinsamkeit nach der anderen. Die peso-scheine zum bespiel
sind hier aus billigstem papier, auf dem fälscher nicht wagen würden, ihre
blüten zu drucken. Bei der ddr waren es die alu-münzen, die noch plumper
wirkten als spielgeld. In beiden ländern wurde gern gewandert, in argentinien
allerdings ein, aus der ddr hinaus. In beiden ländern gab es eine insel, die
sie nicht erobern konnten: die argentinier nicht die malwinas, die ddr nicht
westberlin. Ja, beide länder hatten eine diktatur und einen machtvollen
geheimapparat, wobei die vergleicherei spätestens jetzt nonsens wird, denn die
stasi verfügte nun mal über keine hubschrauber, mit denen sie tausende nackte
und gefolterte menschen ins meer werfen konnte. (Sie hatte übrigens auch zu
wenig meer.)
Worin beide länder sich wiederum unheimlich zu gleichen scheinen,
ist das, was der soziologe emile durkheim „anomie“ genannt hat, das
nicht-so-ernst-nehmen der eigenen gesetze, die normative unzulänglichkeit. In
der ddr machte jeder, was er wollte, staat und polizei störten eigentlich nur,
und in argentinien läufts wohl genauso. Rote ampeln sind zum überfahren da, und
das leben ist ein aneinanderreihung von kavaliersdelikten.
Die aufzählung läßt
sich beliebig fortsetzen. Das ende der welt, das zu markieren beide länder für sich
beanspruchten, argentinien in ushuaia, die ddr an der mauer. Das jeweils
spezielle verhältnis zu den indianern. Die vorliebe für dampferfahrten,
tortenungetüme und für eine besondere nationalität, die nur in der einbildung
existiert. Aber bevor es zu beliebig wird, will ich mit einer gemeinsamkeit, der
einzigen wahren gemeinsamkeit vielleicht, schließen, die ich bezeugen kann: beide länder, argentinien
und die ddr, wurden leider beherrscht vom
gleichen, irgendwie betonartigen, dunkelgrauen, trüben, scheußlich naßkalten
Wetter, jedenfalls als ich da war.
Als ich in deutschland aufbrach, herrschte hochsommer,
die sonne summte, die fliegen brannten, so daß es mir eine willkommene
abwechslung zu sein schien, nach bariloche in den winter zu fliegen, wo ich bei
einer wanderung am cerro otto durch hüfthohen schnee schwamm und einmal sogar
meinen mantel als floß einsetzen mußte, um nicht völlig zu versinken und
womöglich nicht mehr nach buenos aires zu kommen und dort den frühling zu
erleben, überall die singenden leute draußen in cafés, das flatternde licht des
frühlings und die tango tanzenden vögel. Zurück in deutschland, fallen die
blätter aus den büchern, und es wird herbst sein und kalter regen wird die
bäume schrägen.
Ein jahr in vier wochen, wie auf speed, wie im comic, alle vier
jahreszeiten, ich hab sie durch. Und ich fühle mich auch so: reifer, müder vor
allem, ein jahr gealtert eben. Und würde gern wissen, was das bedeutet? Ob meine daten
korrigiert werden müssen zum beispiel? Ob ich früher rente bekomme? Oder sie
irgendwie gut geschrieben kriege, die ausstehenden elf monate? Das sind so
fragen. Was mich auch interessiert: Muß mein tod jetzt neu angesetzt werden?
Ich bin sehr froh, wieder zurück in buenos aires zu sein.
Meine gespräche mit gletschern sind vorerst in beiderseitigem einverständnis
abgeschlossen. Die tiere, die ich sah, habe ich gesehen. Beispielsweise die seehunde, die vor
puerto madryn hauptsächlich herum nölten und damit meine bewunderung
letzlich nicht erringen konnten. Anders die glattwale in der bucht, die auf eine derart lässige
und souveräne art im wasser faulenzten, sich herumwälzten und ab und zu, wie
nach einem tiefen cigarrenzug, ausatmeten, daß ich etwas wie neid verspürte auf
ihre enorme innere ruhe. Den flamingos von calafate meine verehrung. Die dort
auf mich herabschießenden raubmöwen aber sollten nicht mit einer lobenden erwähnung
rechnen. Gegen die adler und geier im umfeld von bariloche hege keinen groll.
Es ist nicht ihre schuld, wenn ich sie mit dem kondor verwechselte, dessen
bekanntschaft ich gern gemacht hätte. Im naturpark von feuerland sah ich
einen schwarzspecht, den ich hiermit grüße. Als er davonflog, klang es, als
würde ein kleiner hubschrauber starten. Wenn er lust hat, auf mich zu hören,
würde ich ihm raten, es vielleicht etwas weniger affektiert zu tun.
Ganz in der nähe scharrten
hundertschaften von falken im boden und ich wagte kaum, durch ihre mitte
zu gehen. Das offizielle treffen mit dem führenden dalmatiner in ushuaia war einer der
höhepunkte meiner expedition. Wenn er einmal nach deutschland reisen wollte,
wäre es mir ein vergnügen, ihn diesmal schweigend an mir vorüber gehen zu
lassen. Der qualle oben in den bergen, am ausläufer des beagle canals, wünsche
ich eine gedenktafel, auf der ihre pionierleistung in sachen
weichtier-tourismus adäquat gewürdigt wird. Habe ich jemanden vergessen? Eines
nachts war mir, als hörte ich neben mir im hotel los naranjos in ushuhaia das
mylodon kurz aufstöhnen, jenes legendäre, vermeintlich ausgestorbene riesenfaultier, das
einst in den weiten flächen patagoniens zu hause war. Zweifellos eine sensation. Aber im hotel? Für ganz
ausgeschlossen halte ich es nicht, muß aber in erwägung ziehen, daß das
geräusch auch von der interaktion jenes liebespärchens verursacht worden sein
könnte, das am nächsten morgen mit roten ohren im frühstücksraum saß.
Ich bin am ende. Am ende der welt. Am selbsternannten
ende der welt. ushuaia nennt sich selbst fröhlich „fin del mundo“, und auf
caps, t-shirts, tassen, pinguinen, baumscheiben und den unvermeidlichen dolchen
in tausendfacher ausführung in den schaufenstern – überall steht „fin del
mundo“ drauf. Mal abgesehen davon, daß auf einer kugel wie dem erdball das ende
an jeder stelle und nirgendwo zugleich ist und daß ein bahnhofsklo in stuttgart
mit gleichem recht beanspruchen kann, ein endpunkt zu sein (und auch sein
dürfte): es spricht nicht gerade für die welt, wenn sie wie in ushuaia aufhört.
Die landschaft, wie an vielen orten hier, grandios, bombastisch, schockierend
schön. Doch ich bin überidyllisiert. Und durch mit Patagonien. Ich mag keine panoramen mehr, keine weiten, keine himmel. Eine gegend wie für
raumfahrzeuge. Ein areal der wolkenparaden. Jeder spaziergang ist 1000
kilometer lang. Und dann kommt die nächste biegung. Gut, daß dieses
Stopschild namens Ushuaia endlich da ist. Fin del mundo. Mir solls recht sein.
Die
Stadt, klar, ist voller touristen und dementsprechend laut und unerfreulich.
Leute mit besichtigungsreflexen und dem interesse für nichts. Leute, die ins
indianermuseum gehen und anschließend kühlschrankmagneten kaufen. Die etwas
erleben wollen und die hier garantiert nichts erleben werden. Außer einem
taschendiebstahl, adapterproblemen und zahnschmerzen. Die in restaurants sitzen
„mit ausblick“ und die verzückt aus fenstern schauen, in denen sie abends, wenn
es dunkel geworden ist, sich selber spiegeln. Ich weiß das, denn ich habe mich
gesehen.
Touristen, like me. Nachfolger, nein: wiedergänger jener
abenteurer, die aufgebrochen waren, die neue welt genauso zu demolieren, wies mit der alten bereits überzeugend gelungen war. Was ist die kraft, die es
schafft, uns hierher zu schicken? Warum machen wir keine rundfahrt mit dem
hometrainer? Woher kommt die neugier auf das, was man schon weiß?
Beim gang
durch den nationalpark tierra del fugo* finde ich eine meeresqualle, die am
ufer einer kleinen, sich weit verzweigenden bucht am fuß des cerro guanaco
sich etwas in die sonne gelegt hat. quallen in den bergen? Sehr mysteriös. Ich
bin etwas ratlos, ob ich sie beglückwünschen oder bedauern soll. Gibt es quallentrekking?
Beim studium der karte, später im hotel, sehe ich, daß ausläufer des beagle
canal bis weit in die anden hinein reichen. Ein mittlerer sturm dürfte genügt
haben, um die qualle in eine neue welt vordringen zu erlassen. Von erobern will
ich nicht reden. Aber vielleicht stranden demnächst seelöwen auf den gipfeln?
Der tourismus hat die artengrenze übersprungen.
* feuerland, wenn’s nach
magellan gegangen wäre, auf den der name angeblich zurückgeht, hieße
rauchland**. Magellan sah keine feuer der indianer, sondern überall nur
dünne rauchsäulen. Der spanische könig carl v. verfügte später, daß, wo rauch sei,
auch feuer sein müsse. Daher der name: feuerland.
** rauchen übrigens, wie
überall in argentina, ist hier verboten. Die leute stehen in pulks vor den türen, so
daß magellan, käme er wieder, erneut nur rauch sähe. Ich weiß nicht genau, wie
es auf der antarktis geregelt ist. Cigarren hätte ich dabei. Aber ich zögere
noch etwas, die 1000 kilometer mit dem schiff zu fahren, um eine durchzuziehen.
Mich erreichen anfragen, ob der hund da unten echt sei. Es gibt
vermutungen, ich hätte den hund eingebaut, ob in dieses fenster oder in dieses
foto, sei dahingestellt. So einen hund gebe es nicht, heißt es, könne es nicht geben. Dazu kann ich nur sagen, ich baue keine hunde ein. Der
hund ist ein realexistierender hund, der eigenständig agiert. Er ist genau da,
wo er ist, in seinem haus unweit der av. leandro n. alem, oben in den hängen, wo
der schmutzige restschnee des winters noch etwas länger verweilt. Ich
widerstehe der versuchung, erneut hinzugehen, um der wirklichkeit zu beweisen,
daß es sie gibt. Auch ein weiteres foto wäre nur ein weiteres foto. Wer will,
kann gern nachschauen, ich zeige ihm den weg. Er muß, wenn er in der san martin
losgeht, als erstes vorbei an diesem großartigen denkmal für den wind, der
durch es hindurchweht. Danach kommen wellblechhütten, die sich kontrastreich an die
imposanten berge hinter ihnen, sagen wir, schmiegen. An dem weißen transporter
am straßenende bitte rechts abbiegen. Nicht wundern: in der gegend leben ungefähr 250
hunde, die jeden, der vorbeikommt, gern begleiten würden, wenn sie nicht gerade
stürben. Linkerhand ist eine werkstatt, die schrott aus schrott macht. Etwas später biegt rechts ein weg ab, und dort ist sie, die hundevilla. Bei
unserer begegnung vor zwei tagen sprachen wir kein wort. Ich überlegte, ob er
vielleicht der bürgermeister der stadt sei, denn sein auftreten war sehr würdevoll, genau so, wie man es vom bürgermeister von ushuaia erwartete. Aber
dann schien mir plausibler, ihn für einen gelehrten zu halten, einen, der seit
vielen jahren studien und messungen zu vorübergehenden anstellt. Er beobachtete
genau und mit äußerster konzentration, wie ich vorüberging. Und ich habe mich noch nie in meinem leben so vorübergehend gefühlt
wie in diesem moment.
Offenbar hat in meinem leben eine phase begonnen, in
der schiffsreisen für mich an bedeutung gewinnen. Innerhalb weniger tage fuhr
ich hier mit einem schiff bei puerto madryn walen hinterher, ich saß an bord
der modest victoria auf dem lago huapi nahuel und ließ berge an mir
vorbeigleiten, und ich bestieg ein boot bei calafate*, das mich zum gletscher
perito moreno brachte, der leider nicht „kalbte“, wie es im deutschen heißt. Die
gletscherkuh "kalbt" nämlich nur alle paar jahre. Bei den enormen antarktischen winden,
die herrschten, und bei den touristischen voyeuren, die sich vor ort
versammelten, hätte ich, an gletschers stelle, auch nicht „kalben“ wollen. Alle
diese schiffsreisen jedenfalls waren mich tief prägende erlebnisse bei
kaffee und kuchen.
Jetzt bin ich nach ushuaia geraten, in die zweitsüdlichste
stadt der welt und zweithäßlichste. ushuaia ist eine uninspirierte barackensammlung, häufig
einstöckig, zweistöckig, windschief, staubzerfressen, forciert trostlos.
Abseits der san martin, der einzigen hauptstraße, an der die üblichen globalen
ramschketten und souvenirdealer liegen, geht die stadt zügig in veritable
elendsbereiche über, die sich wie sperrmüll die andenhänge hinauf ranken. Über
die straße laufen hunde, wie man sie eigentlich nur unter der erde vermuten würde.
Andere scheinen dafür in häusern zu wohnen. Einmal schaute micheiner von ihnen unerwartet aus dem
schlafzimmerfenster seines (?) hauses an. Es war kein traum, und er war echt.
Nach diesem ereignis gewannen die stadt und die ganze reise deutlich an
surrealität.
Niemand kommt gern nach ushuaia, alle reisen gern wieder ab. Dazu
ist der hafen da, von dem sie stadt lebt bzw. fortexistiert. Manche reisen von
hier aus sogar in die antarktis, um wegzukommen. Andere machen ausgedehnte
rundfahrten. Mit dem schiff, versteht sich. So blieb mir praktisch nichts
anderes übrig, als erneut an bord zu gehen, diesmal der elisabetta, um
mit ihr auf dem beagle-channel den zweitsüdlichsten leuchtturm** der welt zum umkurven.
Unterwegs betraten wir die isla bridges, wo in früheren epochen einmal die
yamana-indianer schamanistische rituale abgehalten haben sollen, wofür ich sie
sehr bedauerte. Wir gerieten dicht an mehrere aus dem wasser ragende felsen. Auf ihnen lungerten seegänse und seelöwen herum, die seelenruhig vor sich hinstanken. Dann
kam der leuchtturm, und er war so imposant, wie es ein zweitsüdlichster
leuchtturm sein kann, einer, der nicht mehr leuchtet, einer, über den Jules Verne keinen
roman mit dem titel der leuchtturm am ende der welt geschrieben hat, ein arbeitsloser, überflüssiger, kaputter und einsamer leuchtturm eben. Mich, der ich sonst kein feind der kalten schulter bin, ließ er aber nicht unberührt. Aus den bisherigen schiffserlebnissen hatte
ich gelernt, daß sich das spirituelle niveau heben läßt, wenn man
für einen tragischen soundtrack sorgt. Während der ganzen zeit lief in meinem kopfhörer
goreckis 3. sinfonie, die sinfonie der klagelieder, der 3. satz, und ich
bedauerte diesen leuchtturm, beklagte ihn, meinen freund und bruder, beim ausharren im kampf
gegen die immer dunkler werdenden dunkelheiten, inniglichst.
* hier gibt es übrigens flamingos. Sie sind wirklich pink und stehen einbeinig voller anmut in der landschaft. Und wenn sie im lockeren pulk in ein graues wüstental einschweben, um irgendwo zu landen, dann tun sie dies mit einer sanftheit, vor der man sich gern verneigen würde, wenn keiner zusieht.
** Der zweitsüdlichste leuchtturm der welt wird oft für denjenigen gehalten, der in jules vernes roman der leuchtturm am ende der welt eine herausragende rolle spielt. Er ist es aber nicht, Verne meint einen anderen, noch weiter südlich gelegenen, irgendwo hinter südgeorgien*** postierten. Das buch übrigens ist wirrer räuberrevolver. Es spielt auf einem öden felsen, den sich besagter leuchtturm, seine wachmannschaft sowie ein paar piraten teilen müssen. Die piraten überfallen den leuchtturm, töten zwei der drei wachleute und wollen sich mit ihrer beute davonmachen. Daran werden sie aber von wachmann nr. 3 und einem plötzlich aus dem nichts bzw. vermutlich eiskalten wasser auftauchenden schiffbrüchigen im allerletzten moment – nun, dreimal darf geraten werden.
*** Achtung! Möglicherweise wird dieser Leuchtturm im moment von einem deutschen schriftsteller namens Christian Kracht observiert und als basislager für diverse eroberungsideen genutzt.Vorsicht! Der mann hat einen an der waffel.
Die deutschen faschisten hatten den geschmack, den sie
nun mal hatten, und vielleicht haben so viele von ihnen nach kriegsende,
über die „rattenlinie“ kommend, sich deshalb hier verkrochen, in diesem
zweitberchtesgaden und neuobersalzberg, wo sie einem unbehelligten
lebensfeierabend entgegendämmerten. Die ns-größen Reinhard Kopps und
Hans-Ulrich Rudel tranken hier bier, Josef Schwammberger kam dazu, die
skatrunde war perfekt. Erich Priebke hatte eine fleischerei und einen
feinkostladen, er stand dem trägerverein der deutschen schule vor und galt bis
in die 90er jahre hochangesehener bürger bariloches. Ich finde wirklich, man
merkt es der stadt an oder will es merken, muß es merken. Dazu paßt die perfekte führerkulisse der natur, die überwältigenden felsendome, dieses riefenstahl-panorama vor silbersee. Dazu paßt jeder
grauhaarige greis, der hier um die ecke biegt und mindestens so suspekt ist
wie die zahllosen schokoladengeschäfte, die „tante frida“ heißen oder
„mamuschka“ und die schokolade natürlich selbst herstellen, diese braune
schokolade überall, eine schokoladenstadt.
Dazu paßt die seltsame zwergenarmee, aufmarschiert in vielen
schaufenstern der stadt, die kolonne der mikrogartenzwerge, die immer lachen,
die diktatur des kunsthandwerks. Dazu paßt auch der durch und durch
abgehangene, zutiefst deprimierende, vermutlich vor 30 jahren an die wand
meines hotelzimmers genagelte fetzen, eine studie in brauntönen und kotzgrün,
alte-socken-landschaft mit löchern, entstanden in heimarbeit am herd. Es paßt einfach, es paßt leider alles.
Und vielleicht paßt auch zu viel. Vielleicht ist alles nur Zufall und
Mißverständnis? Zufällig brauchte das junge peron-regime militärische
sachverständige, zufällig war der weltkrieg gerade vorbei, deutschland konnte
ein paar fachkräfte erübrigen, und wie der zufall spielt, landeten sie eben in
bariloche. Die stadt sieht nicht aus wie nürnberg. Die architektur ist ein
desaströser stilmix aus vogelkäfig und autobahnbrücke. Der einfluß der
deutschen kann nicht groß gewesen sein. Es fehlt an allem: an autobahnen zum
beispiel, an sportpalästen und appellplätzen. Ein flughafen immerhin ist da, um
die stadt schnell zu verlassen mit der festen absicht, nicht wiederzukommen.
Bariloche, wohin ich nach schlingernder fahrt mit dem
nachtbus* durch die nachtseite der welt geraten bin, zerfällt in zwei teile: in
bariloche und in die umgebung von bariloche. Die stadt ist der übliche
touristenhumbug, kaum 100 jahre alt, verstopft mit bettenburgen und
souvenierschlamassel der unerfreulichsten art. urlauberkohorten schießen durch die
straßen, tag und nacht die lärmenden anschläge der spaßterroristen, müllhalden,
gewerbebrachen, favelas und wintersportareale umkränzen die stadt wie eine
rosette des horrors. Mein hotel, das „super resort bariloche“, hat zwei sterne:
einen habe ich ihm bereits aberkennen müssen, der andere wackelt. Die umgebung
aber, die weitere umgebung der hochanden, der lago nahual huapi, ist von
aufrüttelnder zauberhaftigkeit. Dem besichtigungszwang nachgebend, dem man auf
reisen, zumal in quasi elysische gefilde, regelmäßig hilflos erliegt, habe ich die
alte „modest victoria“ bestiegen, die eine rundfahrt durch die
gletschergewässer macht. Der film oben ist ohne dialoge, aber dokument eines
selbstgesprächs ohne worte** und resultat einer verzückung, die auf der isla
viktoria, wo das schiff kurz anlegte, sich in die extase steigerte. Als alle
passagiere von bord gingen, um ein restaurant aufzusuchen, sah ich über den
baumwipfeln einen schwarzen schatten. Ich umrundete die menschenleere insel auf
der suche nach einer lichtung, bis ich ihn sah sah: den kondor***. Gleich mehrere
vögel kreisten über mir. Und ich wurde für diesen moment teil einer
postkartenhaften idyllesken epiphanie, die mich fast demütigte. Ich weiß, die natur ist alles andere als eine bilderbuchvorlage für romantische
spinner. Ich weiß es, und wollte es nicht wissen.
* ein ideales geschaukel, eigentlich, wäre nicht direkt über mir der lautsprecher für den monitor gewesen. der monitor war defekt, der lautsprecher nicht. die halbe fahrt gabs filmdialoge und krawallatmo. es wurde debattiert, irgend ein familienstreit, irgend wer mußte immer laut werden, hin und wieder erschien ein raunender geist oder haßprediger und drang in mich ein, schüsse fielen, reifen quietschten, plötzlich stille, ich atmete durch, aber jetzt, sich langsam steigernd, waren tatsächlich schmatzende kußgeräusche zu vernehmen, widerwärtiges klaviergeklimper schwoll an, türen schlugen zu und gingen offenbar leider wieder auf, alles begann von vorn. mehrmalige konsultationen des busschaffners über diesen "stupid speaker" führten nicht weiter. im nachhinein sind allein zwei dinge sehr erstaunlich: a) welche umfangreichen gewalt- und amokphantasien ich in den zehn stunden, nachts, im bus, die wüste querend, müde, zu entwickeln imstande war und wie es mir b) doch irgendwie gelang, äußerlich ruhig dazusitzen, aus dem fenster zu schauen, als wäre da irgend etwas zu sehen gewesen, und mir nichts anmerken ließ.
** ich stellte mir vor, wie es wäre, würde man immer so durch sein leben dahingleiten auf dem dampfer der gnade, das leichte schaukeln der wellen des schicksals, vorbei an den kathedralen des erhabenen, des reinen und schönen, ein ewiges fototapeten-panorama, und ich wußte, es wäre spätestens nach zweidrei tagen unerträglich. man muß das glück nur verlängern, um es zu beenden.
*** genauer: bis ich ihn zu sehen vermeinte, ersehnte, mir einbildete. Es waren normale schwarz- oder rabengeier, die da kreisten ... "die für viele Touristen im Süden der USA, Mittel- und Südamerika zum gewohnten Anblick gehören" (wikipedia). die kleine nachträgliche richtigstellung verwandelte meine verzücktheit in eine mittlere blödheit (was sie wahrscheinlich sowieso war), und ich kann nicht sagen, daß mich diese transformation nicht düpierte.
Ich wußte gar nicht bzw. wußte nicht mehr, daß ich schon
einmal in patagonien war, vor vielen jahren, und zwar im gedicht, wie ein
simples suchfunktionsergebnis auf meinem rechner heute ans tages- bzw. spätabendlicht gebracht hat. Untiges
werk schrieb ich auf einer lesereise, die ich mit dem buch ÖDE ORTE
absolvierte, irgendwann in den 90ern. Ich hoffe nun nichts so sehr wie dies:
daß ich die anderen orte dieses gedichts nicht auch noch werde persönlich
aufsuchen müssen. Benennungen und benamsungen haben anscheinend den obskuren drang, sich zu materialisieren, ihr recht einzufordern, sich zu verwirklichen, wie mein patagonien-beispiel hier
zeigt, nein: beweist. Und ich will, bitte, weder ins beduinenkloster noch an
die autobahnplanke.
ps
auch nicht nach omsk.
Leipziger Elegie
Leipzig, das ist doch kein Name Leipzig macht keinen Sinn Leipzig ist Leipzig ist immer wieder Leipzig Weil ich in Leipzig geboren bin Leipzig auf Stellen und Ämtern Von der Geburt bis zum Sarg In Paß-, Bank-, Kranken-, Ausweis-und Führerscheinangelegenheiten Und im Rentenbewilligungsantrag Leipzig im Stempel des Melderegisters Leipzig im Zeugnis in jedem Jahr Leipzig in Universitätsimmatrikulationssekretariaten Und im tabellarischen Lebenslauf, klar Leipzig als Deutschkurs-Aufsatzthema Leipzig in Baku am Kaspischen Meer Überall sagst du wie John F. Kennedy einstmals bekanntlich "Isch bin oin Leupzigör" Leipzig auf dem Zeltplatz in der Provence Leipzig im Skikurs-Formular Leipzig im Flugzeug, nachts, Sitz 68, glaub ich Leipzig in Sansibar Leipzig, Leipzig und immer nur Leipzig Es ist zum Edvard-Munch-haften Schrein Und kein Arzt hilft dir aus der Krise der Krisen In, in ... na, wo wohl ... geboren zu sein Du kannst dein Geschlecht umwandeln oder Straks in ein Beduinenkloster gehn Dieses ... ihr wißt schon ... es wird, und zwar als Geburtsort Bei deinen Lebensdaten stehn Du erhältst den Nobelpreis bzw. Die Ehrenbürgerschaft im sibirischen Omsk Bekannt wird, daß du nicht aus dem klangvollen Patagonien Sondern aus Dingsbums bei Delitzsch kommsk Du liegst an der Autobahnplanke im Koma Mit einem Reifen zwischen den Ohrn Doch der Sanitäter fragt wieder und wieder: Wo bist du, wo bist du, wo bist du geborn? Dem wirst du niemals entweich- nein: entrinnen Egal, was du unternimmst, anstellst, treibst Daß du auf der Galeere – äh – „Pünktchen, Pünktchen“ Zeitlebens Sklave bleibst
Lebenslänglich lautet das Urteil Und das Leben ist leider lang Und es steht unter unfassbarstem Geburtsorts-Wiederholungszwang
Eher zufällig erfahre ich, hier im argentinischen kurzzeitexil,
daß Christian Kracht, schweizer popliterat und hobbymystiker, vor kurzem auch
nach argentinien gegangen ist, nach buenos aires, angeblich um in die politik
einzusteigen und ein neoperonistisches projekt zu begründen, dessen erster
programmpunkt sei, die falkland-inseln bzw. malwinas wieder für argentinien
zurückzuerobern, in seinen worten: „den blutigen stachel aus dem argentinischen
fleisch herauszuziehen“. Und zufällig begegnet mir am strand von puerto madryn
ein erbärmliches, trost- wie einfallsloses monument, gewidmet den gefallenen
heroen dieses krieges. zwei soldaten stehen oder hocken da, auf einem kleinen hügel, einer
die zerfetze argentinische flagge hochhaltend, der andere einen toten oder verletzten
kameraden im arm, den er stumm richtung himmel reckt.
Mag sein, Kracht ist
tatsächlich hier. Vielleicht ist er auch auf südgeorgien, um dieses
gebiet an die sowjetunion zurückzugeben. Oder er weilt auf den
sandwichinseln, um einen imbißkette zu gründen. Seine falkland-idee ist jedenfalls parfümierter nonsens. Niemand sollte ein revival dieser kümmerlichen
nummer wünschen. Die einwohner nicht, die so gern engländer sind und bleiben
wollen, die argentinier nicht, denen das völlig sinnlose totaldebakel von 1982
reichen dürfte, und nicht die briten, die alles andere als grundsympathisch rüberkommen in der angelegenheit. Selbst ronald reagan, sonst kein kriegsgegner,
verstand seinerzeit beim besten willen nicht, warum sich zwei alliierte um ein paar eisige
felsen bekriegen, und für die felsen, so darf vermutet werden, blieb die sache
erst recht unklar. Über tausend tote soldaten, zivilisten, seeleute und doppelt
so viele verwundete ließen am ende leben und gesundheit für schätzungsweise:
nichts oder eben dafür, daß alles so blieb, wies war, also genauso kalt, kahl
und ungemütlich wie zuvor. Daß im nachhinein und nebenbei herauskam,
großbritannien habe zwischenzeitlich erwogen, im fall des falles eine
argentinische stadt, wahlweise cordoba, mit einer atombombe anzugeifen, macht
diese komische partie nicht gerade appetitlicher. Denn komisch war er auch, der
falklandkrieg, man lese nur, zum beispiel auf wikipedia, die
haarsträubend-grotesken manöver der briten nach, wie sie während der „operation
black buck“ versuchten, einen bomber auf dem weg zum einsatz auf den
falklandinseln zu betanken. Möglich, daß es sich dabei um die dreharbeiten für „dr. seltsam reloaded“ gehandelt hat.
Was ich bei
allem ja hoffe: daß für jene armen heroen, die krachts attacke auf
die felsennasen reiten und im südpolnahen abseits ihr leben lassen müssen, eine nicht ganz
so unglamouröse erinnerungsskulptur dannbereit stehen möge. Und was ich aber
eigentlich sagen will und ihm, kracht, gern vorschlagen würde: vielleicht, am
ende, läuft es für ihn besser, wenn er ein paar elefanten auf den elephanteninseln ansiedeln tät, als in der
falklandsache sich als befreiungsdichter, sagen wir, zu stark zu exponieren.
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