Peter Hacks
Das Vaterland
So wie das Einhorn vor den Geistern allen
Hervorsticht durch Empfindsamkeit und Wissen,
Wie der Demant vor minderen Kristallen,
Der Kaviar vor sonstigen Leckerbissen,
So wie der Panther vor den Waldnaturen
Und Greta Garbo vor den andern Huren,
So stach einmal mein liebes Vaterland
Unter den Reichen dieser Welt hervor.
Das Land, wo keiner darbte, keiner fror.
Das Land, wo jeder Dach und Arbeit fand.
Wie lob ich es? Wie enden, wie beginnen?
Ich sage, es war ganz und gar bei Sinnen.
Wer reifen wollte, war befugt zu hoffen.
Die Seelen nahmen Form an und die Leiber.
Dem Ärmsten stand die höchste Stelle offen.
Was Männer durften, durften auch die Weiber.
Und weder Aberglauben, weder Schulden
Fand sich sein stolzes Herz bereit zu dulden.
Und keine Krankheit, wenn sie heilbar war,
Blieb von der Kunst der Ärzte ungeheilt.
Und kein Verdruß, sofern er teilbar war,
Ward redlich nicht von Fürst und Volk geteilt.
Kein Eigentümer konnte uns befehlen,
Zu seinem Vorteil selbst uns zu bestehlen.
Wie aufgeklärt hier alles. Wie durchheitert.
Wie voller Frische, voller Ahnungen.
Ins Morgen ward die Gegenwart erweitert
Des Vaterlands durch seine Planungen.
Es ist ein Hochgenuß, von ihm zu sprechen.
Es war ein Staat und scheute das Verbrechen.
Wer kann die Pyramiden überstrahlen?
Den Kreml, Sanssouci, Versailles, den Tower?
Von allen Schlössern, Burgen, Kathedralen
Der Erdenwunder schönstes war die Mauer.
Mit ihren schmucken Türmen, festen Toren.
Ich glaub, ich hab mein Herz an sie verloren.
Das war das Land, in dem ich nicht geboren,
Das Land, in dem ich nicht erzogen bin.
Das ich mir frei zum Vaterland erkoren,
Daß bis zum Grab ich atmete darin.
Das mit dem Grab hat sich nun auch zerschlagen.
Doch war das Glück mit meinen Mannestagen.
In dieser Hundewelt geht vieles ohne
Ideen, aber nichts ohne Spione.
Schuld, daß ich alles deutlich offenbare,
Schuld trug das KGB. Wohl zwanzig Jahre
Hat insgeheim mit Langley oder Harvard
Es über unsern Untergang palavert.
Die Sowjetmacht, sie schenkte uns das Leben.
Sie hat uns auch den Todesstoß gegeben.
Nur täuscht euch nicht. Rußland und wir, wir beiden,
Sind niemals, auch nicht durch Verrat, zu scheiden.
So viel für jetzt. So viel zum künftig schwierigen
Verhältnis zwischen Preußen und Sibirien.
Fremd ist die Sonne, die mir heute leuchtet.
Und bloß im sich versenkenden Gemüte
Seh ich die Landschaft, die hier vormals blühte.
Nicht immer bleibt mein Auge unbefeuchtet.
Man weint um Hellas. Sonst geschieht es selten,
Daß einer Staatseinrichtung Tränen gelten.
Und derer laßt mich denken, die es schufen,
Das Vaterland, ihm Hirn und Willen liehen,
Es kräftigend zu menschlichsten Behufen.
Kaum einer ist mehr. Laßt mich nicht verziehen,
Als Greis dem Sterbenden mich mitzuteilen.
Für Alfred Neumann schrieb ich diese Zeilen.(Nachdruck/Vervielfältigung nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Rechteinhabers. © Eulenspiegel Verlag, Berlin )
"...der erdenwunder schönstes" – ist peter hacks' rühmung der berliner mauer die fortsetzung der poesie mit ideologischen mitteln? warum, zu welchem dichterischen behufe, poetischen nutzen und künstlerischen frommen besingt und lobpreist er das schmuck- und reizlose bauwerk ausgerechnet für seine schönheit? für die beste und erhellendste und zugleich einleuchtendste lesart der o.a. und fett gesetzten 6. strophe stifte ich das original des seinerzeit von hacks in die KONKRET-redaktion eingesandten blattes mit dem gedicht "das vaterland"*. juror wird sein der dichter und endreimgott horst tomayer, selbst verfasser eines gedichts über die berliner mauer und zuletzt hacks korrespondent in hamburg. einsendungen bitte nicht länger als etwa 6000 zeichen und bis zum beginn der leipziger buchmesse (17.3.) hier in den kommentar. bekanntgabe des gewinners oder der gewinnerin am buchmessensonntag (21.3.), hier auf dieser seite.
hier entlang zur kleinen debatte auf der peter-hacks-seite.
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