Ich habe sie jetzt schon bei skagen in dänemark gesehen,
in devon in südengland, nördlich von lissabon und jetzt hier, in argentinien,
in puerto madryn, am golfo nuevo. Vermutlich sind sie überall. Sie kommen mit
dem auto, bleiben am straßenrand stehen, stellen den motor ab und
halten inne, bewegen sich nicht mehr, stundenlang, den blick nach vorn
gerichtet, aufs meer hinaus. Manchmal kurbeln sie das fenster etwas herunter.
Einige rauchen. Einige nehmen tee oder kaffee aus der thermoskanne. In
unregelmäßigen abständen wird der motor angelassen, der heizung wegen. Niemand
steigt aus. Draußen, auf dem meer, passiert in der zeit, in der sie dort
parken, nicht unübliches: sonne, wellen, wind. Wolken ziehn. Das wasser
schillert und flimmert in den üblichen blautönen, grüntönen, silberpapiertönen,
je nachdem. Wenn die sonne untergegangen ist, flackert es dunkel wie ein kellerfenster. Mal zeigt sich ein schiff, ein kleiner
punkt, weit hinten. Mal ein schiffbrüchiges holzbrett, an dem sich eine
plastiktüte festklammert. Im auto passiert nichts. Man hört das rauschen der
brandung. Es klingt ein wenig wie die stadtautobahn. Irgendwann fahren sie
wieder los, und man hat das gefühl, sie hätten etwas erledigt, eine arbeit,
einen auftrag.
Vielleicht sind sie angehörige einer geheimarmee, die auf den einsatzbefehl warten, der nicht kommt. Oder sie gehören einer sekte an, harrend der ankunft von was auch immer. Vielleicht haben sie eine wette verloren, und dies ist ihr einsatz? Es ist ein ritual, ein zwang. Sie brauchen den meerblick, den kick des blicks, sie müssen ihn haben: sex mit dem meer. Es ist ein geologischer porno, ein dreier mit küste und wasser. Auszuschließen ist es nicht. Oder läuft hier so ein Kontrollding? Sie müssen mit dem auto zum meer fahren, um zu prüfen, ob es immer noch ordnungsgemäß da ist? Die wächter der meere. Meldestellen weltweit nehmen berichte entgegen. Hier ist noch alles beim alten, keine vorkommnisse. Der atlantik verhält sich unauffällig. Oder sie wissen womöglich jemanden auf der anderen seite des wassers, an den sie denken? Vielleicht wollen sie weg, wollen ihr leben hinter sich lassen, aber sie kommen nicht weiter als bis zum ufer? Möglich wärs. Vielleicht ist das meer für sie die alternative zur wand in ihrer wohnung, auf die sie ansonsten starren. Vielleicht hängen da fotos vom meer, und sie machen hin und wieder einen abgleich. Man weiß es nicht. Sind sie aktivisten, demonstranten, protestieren sie gegen die verbauung der städte, gegen die unterdrückung des freien blicks? Haben sie pauschalurlaube hinter sich in hotels, die, anders als im katalog stand, keinen meerblick hatten? Warten sie? Oder warten sie nicht mehr und haben sich abgefunden damit, daß nicht mehr viel passiert, daß wellen kommen und wellen gehen? Ja? Nein? Das meer, unbeeindruckt herumwogend wie immer, wenn sie wieder abgefahren sind, verweigert natürlich die auskunft.
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