Es gilt als eine art höhere lebensweisheit, vom zustand der
schuhe eines menschen auf seine verfassung und seinen sozialen status zu
schließen. Viele autoren beschreiben deshalb gern und ausgiebig schuhe, das
aussehen von schuhen, preis, material von schuhen, gern auch mal den klang von
absätzen, wie er durch die nacht hallt, wie anders er klingt bei streß, eile,
eifersucht. Im aktuellen bestseller „schuh“, quatsch: „schuld“ von ferdinand
von schirach zum beispiel gibt es immer wieder schuhschilderungen,
schuherwähnungen, schuhdetails, die als charakter-orakel dienen und
außerordentlich langweilen. („...er sah ordentlich aus ... dicker mantel,
geputzte schuhe. Sie sah immer zuerst auf die schuhe ...“) Ich bin, um das gleich
zu sagen, weder schuhverächter oder schuhhasser, aber auch kein schuhspezialist
und erst recht kein schuhsoziologe. Mir genügt zu wissen, daß die anzahl von
schuhgeschäften zuverlässig vom niedergang einer straße kündet und daß frauen,
die viele schuhe haben, gern mehr schuhe hätten und daß männer, die unter einer
schuhneurose leiden (immer schön bei talkshows die beine über kreuz und die
budapester in die kamera halten) auch noch stolz darauf sind. Ich kann mich da
völlig der wertung enthalten und emotionslos bleiben. Mein problem
liegt tiefer. Ich nenne es respekt vor dingen, ich könnte es auch
unangebrachten respekt vor dingen nennen.
Dies sind meine schuhe, und zwar am
beginn meiner reise nach argentinien, sinnloserweise im gepäck, meine schuhe
a.d. sozusagen. Ich konnte sie nicht zurücklassen, dabei bedeuten sie mir
nichts. Es schien mir eine frage der integrität zu sein, der würde. Ich habe
sie die ganze zeit im koffer, denn anziehen kann ich sie nicht mehr. Sie sind an
der ferse völlig ausgerissen, und ihre sohle ist so dünn, daß man sie nicht
mehr benutzen möchte. Sie waren nicht teuer, all star converse, sie waren
nichts besonderes, sie waren nicht einmal gut, sie waren nur da, in mexiko,
berlin, shanghai, sie standen neben dem bett, sie steckten fest unterm sitz im
flugzeug, sie liefen über den strand. Zeugen meines albernen nomadentums. Nichts aufregendes. Ein halbwegs normales, halbwegs ereignisreiches schuhleben, würde ich sagen. Es
ist ihre letzte reise. Und ich frage mich ernsthaft: soll ich sie beerdigen? In patagonien, einem landstrich, dessen name angeblich auf die großen füße
(schuhe?) der ursprünglich einheimischen tehuelche-indianer zurückgeht? Und
wäre das schuhbegräbnis in meiner biographie womöglich der gleiche point of no
return wie nietzsches umarmung eines pferdes in turin?
Ich kann nur davor warnen, diese Schuhe in Patagonien, womöglich noch an einem Platz mit Miradorqualitäten und Buena Vista, zu begraben oder in irgendeine atemberaubende Tiefe zu werfen. Dies wäre eine Tat, dem wahnsinnigen Kaiser Caligula ähnlich, der sein Lieblingspferd zum Konsul ernennen lassen wollte oder sogar ernennen ließ. Grenzenlose Freiheit und das Fehlen einer klar umrissenen Mission, wie sie nun mal Cäsaren und Reiseschriftstellern eignen, verleiten sehr schnell zu scheinbar romantischen Akten wie einer patagonischen Schuhbeerdigung. Tatsächlich ist damit der erste Schritt ins Irresein getan. Warum nicht auch Unterhosen auf dem Platz des Himmlischen Friedens verbrennen? Oder die alten Socken auf Lenins Sarkophag legen? So wird aus einer kleinen müssigen Erwägung in einem argentinischen Hotelzimmer ein mehrjähriger GULAG-Aufenthalt in Nordchina oder Kamtschatka und schon hat alles wieder einen Sinn...
Kommentiert von: Stefan Schwarz | 07. September 10 um 19:05 Uhr