Am ende hat mich argentinien sehr an die ddr erinnert.
Vielleicht weil die zeit mir etwas lang wurde und nichts passierte. Vielleicht
weil die zeit auch hier stehen geblieben zu sein scheint. Argentinien ist das
land der alten, der alten kellner, die würdevoll im halbschatten der
schankräume stehen, der alten billardspieler, mit hosenträger und gel im grauen
haar, der alten tänzer, die in alten häusern ältere damen zum tanz bitten. So
kams mir vor. Mag sein, ich bin irgendwo falsch abgebogen. Doch der eindruck
bleibt. Wie die ddr macht dieses land einen blassen eindruck, es zieht überall,
und wenn es etwas gibt, das einem sofort ins auge fällt bzw. bläst, dann ist es
der staub. Die städte sind grau und haben fassaden von gestern. Jede menge
fahnen, kreisrunde plätze, geometrisch konfuse denkmäler mit zacken. Die
straßen sind schlecht. Das essen kann man nicht essen. Mir ist ein rätsel, wie
die leute hier überleben. Die argentinische küche kennt keine gewürze außer
ketchup und mayo, keinen fisch außer lachs und forelle. Die existenz von gemüse
wird bestritten. Fleisch liegt in arschbackengroßen portionen vor. Pizzas sind
fondue, fondue ist quark. Woher der kaffee seine braune farbe hat, weiß
niemand. Sport spielt eine große rolle. Die mittagspausen sind lang. Es wird
viel geredet. Morgen ist auch noch ein tag.
Ist der vergleich einmal gezogen,
findet sich eine gemeinsamkeit nach der anderen. Die peso-scheine zum bespiel
sind hier aus billigstem papier, auf dem fälscher nicht wagen würden, ihre
blüten zu drucken. Bei der ddr waren es die alu-münzen, die noch plumper
wirkten als spielgeld. In beiden ländern wurde gern gewandert, in argentinien
allerdings ein, aus der ddr hinaus. In beiden ländern gab es eine insel, die
sie nicht erobern konnten: die argentinier nicht die malwinas, die ddr nicht
westberlin. Ja, beide länder hatten eine diktatur und einen machtvollen
geheimapparat, wobei die vergleicherei spätestens jetzt nonsens wird, denn die
stasi verfügte nun mal über keine hubschrauber, mit denen sie tausende nackte
und gefolterte menschen ins meer werfen konnte. (Sie hatte übrigens auch zu
wenig meer.)
Worin beide länder sich wiederum unheimlich zu gleichen scheinen,
ist das, was der soziologe emile durkheim „anomie“ genannt hat, das
nicht-so-ernst-nehmen der eigenen gesetze, die normative unzulänglichkeit. In
der ddr machte jeder, was er wollte, staat und polizei störten eigentlich nur,
und in argentinien läufts wohl genauso. Rote ampeln sind zum überfahren da, und
das leben ist ein aneinanderreihung von kavaliersdelikten.
Die aufzählung läßt sich beliebig fortsetzen. Das ende der welt, das zu markieren beide länder für sich beanspruchten, argentinien in ushuaia, die ddr an der mauer. Das jeweils spezielle verhältnis zu den indianern. Die vorliebe für dampferfahrten, tortenungetüme und für eine besondere nationalität, die nur in der einbildung existiert. Aber bevor es zu beliebig wird, will ich mit einer gemeinsamkeit, der einzigen wahren gemeinsamkeit vielleicht, schließen, die ich bezeugen kann: beide länder, argentinien und die ddr, wurden leider beherrscht vom gleichen, irgendwie betonartigen, dunkelgrauen, trüben, scheußlich naßkalten Wetter, jedenfalls als ich da war.
Der Vergleich zwischen Argentinien und die DDR erinert mich an Borges' chinesische Enzyklopädie, in der es heißt, dass "die Tiere sich wie folgt gruppieren: a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einblsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in diese Gruppierung gehörige, i) die sich wie Tolle gebärden, k) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind, l) und so weiter, m) die den Wasserkrug zerbrochen haben, n) die von weitem wie Fliegen aussehen".
Ich frage: Wer kann dem Zauber unterliegen, die Gemeinsamkeiten die Gemeinsamkeiten beider Länder als perfekte Fiktion aufzunehmen? 1974 hat Michel Foucault Borges' Taxonomie im Vorwort von "Les mot et les choses" zitiert, um auf die Kontingenz aller Ordnungssysteme hinzuweisen und damit auszudrücken, dass die Welt so ist, wie man sie für sich und andere segmentiert, sortiert, kategorisiert, klassifiziert.
Und das alles noch bei schlechtem Wetter...
Kommentiert von: Gabriela Massuh | 02. Oktober 10 um 04:08 Uhr